Seelengespräche

Andachten der Königin Elisabeth von Rumänien, geborene Prinzessin zu Wied (1843-1916)

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Silvia Irina Zimmermann

 

Carmen Sylva: Seelengespräche. Andachten der Elisabeth zu Wied, Königin von Rumänien (1843-1916). Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Silvia Irina Zimmermann, Edition Noema, Stuttgart: Ibidem-Verlag, 2020, 278 Seiten, ISBN: 978-3-8382-1418-4.

Details zum Buch auf der Website des Ibidem-Verlags, Edition Noema

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Carmen Sylva, geborene Prinzessin Elisabeth zu Wied und ab 1881 die erste Königin von Rumänien (1843-1916), veröffentlichte zahlreiche literarische Werke - Gedichte, Theaterstücke, Märchen, Erzählungen, Aphorismen, Essays und Romane - die von 1880 bis 1916 weltweit ein breites Publikum fanden. Der Band "Seelengespräche" enthält religiöse Texte, die die Königin im Jahr 1884 ihrer Mutter, Fürstin Witwe Marie zu Wied, zum 59. Geburtstag in einer gebundenen Handschrift mit der Widmung schenkte: "Meiner Mutter, meinem Religionslehrer und Vorbild auf dem Erdengange". Der Band erschien als Buch zuerst 1888 in rumänischer Übersetzung in Rumänien und im Jahr 1901 in einer ersten und bisher einzigen deutschen Auflage. Diese Neuauflage der "Seelengespräche" von 2019 enthält den gesamten Originaltext der Erstauflage sowie ein Nachwort zum Leben und Werk Carmen Sylvas.

Die Herausgeberin Silvia Irina Zimmermann veröffentlichte mehrere Bücher über die dichtende Königin. Sie ist Initiatorin und Leiterin der Forschungsstelle Carmen Sylva des Fürstlich Wiedischen Archivs in Neuwied.

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"Diese kleinen Andachten schrieb ich für den Hausgottesdienst meiner Mutter, wenn sie nicht kräftig genug, eine wirkliche Predigt zu lesen."
Carmen Sylva (Widmung in der deutschen Erstausgabe von 1900)

 

1. Andacht: Seelenstärke

Die Worte, die unserer Andacht zu Grunde gelegt sind, finden wir verzeichnet im Briefe Pauli an die Römer, im 15. Kapitel, im ersten Verse:

"Wir aber, die wir stark sind, sollen der Schwachen Gebrechlichkeit tragen und nicht Gefallen an uns selber haben."

In dieser heiligen Stunde, in der wir strenge Rückschau halten wollen, um dann freudig auszublicken, müssen wir uns drei ernste Fragen vorlegen, drei Fragen, die wir nicht mit Worten, sondern nur mit unserm Wandel beantworten können: Sind wir stark? Tragen wir die Schwachen? Haben wir Gefallen an uns selber?
Sind wir stark und was heißt stark sein? Wir wollen nur in uns hineinschauen und uns fragen, wann wir stark gewesen in dem vergangenen Jahre. Haben wir eine leichte Pflicht gern erfüllt, ohne Opfer zu bringen, ohne Entbehrungen zu tragen, ohne Versuchungen widerstanden zu haben? Das war nicht stark sein. Haben wir in gesundem Körper ein heiteres Gemüt gehabt, ohne Selbstüberwindung, ohne Geduld zu üben, ohne Schmerz und Mattigkeit? Das war nicht stark sein. Haben wir uns die Arbeit leicht gemacht und die Augen abgewandt von dem Schwierigen und Unangenehmen? Sind wir dem nachgegangen, was uns Gewinn bot, in der selbstsüchtigen Gier nach Besitz und Wohlleben? Das war wieder nicht stark sein.
Stark sein heißt: treu ausharren bei der unternommenen Pflicht, wenn sie uns auch kein freundliches Gesicht macht, wenn uns auch niemand helfend unter die Arme greift, wenn auch kein Lob uns liebreich aufrichtet. Stark sein heißt: von Opfern und Entbehrungen nicht reden, nicht einmal daran denken, wenn es gilt, zu dienen und zu leisten. Stark sein heißt: gegen des Körpers Schwäche und Mattigkeit seines Geistes Kraft einzusetzen, wie der Soldat auf Vorposten, der dem Schnee, dem Wind, dem Feinde in dunkler Nacht hungrig entgegensieht, nicht das Antlitz vom beißenden Nordwind wegwendet, ob er ihm auch das Gesicht zerreißt, ob ihm auch Bart und Wimpern gefrieren; und ob er selber im Tode erstarrt, nicht wendet er sich schutzsuchend um. Denkt er in jener Stunde nicht der trauten, friedlichen, warmen Heimat? Würde er sich zu ihr fliehend wenden, er würde als Feigling erschossen. Sein einziger Lohn für Mut und Ausdauer ist eine verlorene Kugel und ein unbekanntes Grab. Stark sein heißt: an Ehre, Lohn, Gewinn nicht denken, das Gute tun um des Guten willen, in reiner, kindlicher Freude an seiner Schöne.
Sind wir stark, meine Lieben? Ein Zeichen größter Kraft ist es, die Schwachen zu tragen. Tragen wir sie? Haben wir Geduld, wenn unser Herr wunderlich ist und gar viel fordert, wenn unser Diener sich nicht leicht unserm Willen fügt, wenn Bruder oder Schwester oder Freunde gerade das von uns fordert, was uns am meisten Mühe kostet, gerade den Fehler hervorkehrt, der uns am widerwärtigsten ist? Sagen wir ihm keine herben Worte, oder was noch schlimmer ist, klagen über ihn hinter seinem Rücken und machen die anderen erst noch recht aufmerksam auf seine Fehler? Ist es uns noch jemals eingefallen, der Mitbrüder Schuld auf uns zu nehmen und die Rüge zu tragen, die ihnen gegolten? Haben wir uns nicht vielmehr beeilt, die eigne Schuld abzuwälzen? Haben wir uns nicht an das vorher Gleichgültige freundlich angeschlossen, nur um über den anderen vereint herzufallen und seine Fehler immer unerträglicher zu finden, je mehr wir sie besprachen? Wir ertragen nicht ihren Widerspruch, nicht ihre Eitelkeit, nicht ihre Vergesslichkeit, nicht die kleinste üble Laune, deren Grund wir erforschen und entfernen könnten, hätten wir sie lieb.
Tragen heißt lieb haben. Und wen haben wir lieb? Wen haben wir so lieb, dass selbst seine Fehler uns liebenswert erscheinen, weil sie immer die Kehrseite einer Eigenschaft sind.
Tragen heißt verstehen. Und wen verstehen wir? Wann geben wir uns die Mühe zu erforschen, ob sein Herz schwer von Sorgen belastet ist? Wir sehen sein Haar bleichen, die Falten sein Gesicht durchziehen und wissen nicht, warum. Wir ahnen nicht, dass sein Auge schlaflos geblieben ist, dass er gelechzt hat nach der freundlichen Frage: "Ist dir nicht wohl?", um sein übervolles Herz auszuschütten. Wir finden nur seinen Gang matt, sein Auge glanzlos, seine Antworten karg und einsilbig. O, er hätte gesprochen, wäre er nur gefragt worden, so wie Christus zu fragen verstand, dessen Auge feucht wurde, wenn er leiden sah.
Tragen heißt helfen. Und wem helfen wir denn? Wir warten auf der andern Hilfe. Wir bieten ihnen eine solche Hilfe an, die sie nicht annehmen können, oder die ihnen gar nichts nützt. Und dann wollen wir Dank haben, endlosen Dank, weit mehr als unsere Hilfe je verdient hat! Wie gut, wie klug, wie selbstlos muss der Helfende sein! Wie muss er es verstehen, sich an des anderen Stelle zu setzen, sich ganz in ihn hineinzudenken! Wir aber werfen ihm überflüssige Brocken hin und wundern uns, wenn er sie nicht aufhebt. Wir geben dem Verdurstenden trockenes Brot, bloß, weil wir nicht gemeint, dass er durstig sei. O, wann, wann tragen wir unseren Nächsten?
Nun die letzte und schwerste Frage: Haben wir Gefallen an uns selbst? Wer würde es wagen, "Nein" zu sagen! Dir sind die Kleider zuwider, du rühmst dich aber deines fleckenlosen Wandelns. Du findest dein Gesicht im Spiegel nicht schön, aber du hältst dich für klüger als die anderen. Deine Kinder sind zwar nicht vollkommen, aber doch viel besser erzogen als alle anderen. Dein Garten ist nicht so gut gelegen, trägt aber die schönsten Früchte. Dein Nächster ist immer mürrisch und du immer gut gelaunt; du bist stolz auf deine gute Laune, um die der andre sein Hab und Gut hergeben würde, wenn er nur einen starken Körper und ein heiteres Gemüt besäße. Du bist stolz auf das gebrachte Opfer und erzählst es immer. Und dadurch wird dein Opfer dem anderen leid. Er wünschte tausendmal, du hättest es nie gebracht. Du bist stolz auf deine Wahrheitsliebe und weißt nicht, dass deine bitteren Wahrheiten die anderen kränken und ihnen alle Fröhlichkeit verleiden.
Wer hat im Herzensgrunde nicht eine Stelle, in der er die Selbstgefälligkeit verbirgt und nicht denkt, dass ihm alles, ja alles von Gott geschenkt ward, und dass er so reichlich mit Fehlern und Schwächen begabt ist, wie er es selbst nicht ahnt. Nur die Schwäche des anderen hat er nicht, und darum ist er so stolz. Darum ist alle seine Kraft Schwäche; denn seine Schwäche ist eines anderen Stärke, auf dass sich der große, gewaltige Weltbau ergänze. Und wie der Weltbau, so jedes kleine Haus, so jede Familie, so jede Vereinigung. Würde jeder seine Kraft dem anderen dienstbar machen und seine Schwäche offen erkennen, so dass dort ein anderer einträte, so wären wir so, wie Gott uns gewollt hat, wie wir werden können, wenn wir mit Inbrunst seinen heiligen Worten nachstreben und nachleben. Dazu wolle er uns helfen. Amen.

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Vater im Himmel! Du hast Kraft in Fülle für Deine schwachen Kinder! Du kannst uns bei der Hand nehmen, wenn wir vor unserem Tagewerk zagen. Du kannst unsere Leiden tragen helfen; Du gibst Mut, wenn die Sorgen uns erdrücken. Unsere Schwäche ist nicht kleinlich in Deinen Augen, da Du uns also gemacht. Du kennst das Maß der Kraft, das Du einem jeden zugeteilt; Du sendest auch die Last. Willig sollst Du uns finden und geduldig, wie es Deinen Kindern geziemt. Untereinander wollen wir uns liebreich tragen. Verzeih'! Ach, verzeih' uns, wenn wir bisher zu oft gehadert, wenn wir nicht einander unter die Arme gegriffen, auf dass keiner strauchele in unserer Nähe. Lege Worte der Liebe auf unsere Lippen. Öffne unsere Augen, dass wir sehen, wo wir helfen sollten, dass wir an Leiden nicht kalt vorübergehen, dass wir Fehler nur durchschauen, um sie sanft und freundlich einzuhüllen. Und strafe uns nicht, Gott, wenn wir in eitler Selbstüberhebung zu viel von uns halten. Verzeih' uns auch diese Schwäche, mache unser Herz kindlich demütig, auf dass es nicht durch Jammer und Bitternis zur Demut geführt werden müsse. Wir wollen Dir danken durch Wort und Werk. Wir wollen uns unserer Schwachheit rühmen, auf dass Du in uns mächtig seist! Amen.